Vidocq

Wieder ein digitaler Primeur - aber was für einer! Der historische Krimi "Vidocq" ist der erste mit der neuen 24 Bild-Sony HD-Kamera komplett digital gedrehte Spielfilm - vor "Star Wars: Episode 2" von George Lucas. Bemerkenswert vor allem, dass Regisseur Pitof mit der neuen Technik faszinierend andere Bilder schuf.

Die Kreativität Pitofs - mit bürgerlichem Namen Jean-Christophe Comar - konnten wir schon in bei den Effekten für "The Messenger: The Story of Joan of Arc", für die "Stadt der verlorenen Kinder" Ý(1995) und bei "Alien: Resurrection" (1997) erleben. Er gilt als französischer Trendsetter für Spezial- und digitale Effekte. Die bisherige Zusammenarbeit mit den Regisseuren Marc Caro und Jeunet ist bemerkenswert, weil "Vidocq" durchgängig wie ein "Anti-Amelie" wirkt. Das in Jeunets Erfolg auf hell und freundlich bearbeitete Paris ist bei Pitof dunkel und bedrohlich. Angesichts einer blutigen Mordserie ließe sich "Vidocq" in Anlehnung an den schauerlichen US-Thriller "Seven" auch französisch "Sept" nennen.

Die Handlung beginnt im Jahr 1830 mit dem Ende der Hauptfigur: Detektiv Vidocq (Gérard Depardieu) verfolgt eine maskierte Gestalt durch verwinkelte Gewölbe einer Glasbrennerei und wird schließlich in eine lodernde Feuergrube gestürzt. Tage später taucht ein junger, naiver Journalist auf, um das Leben und den letzten Fall Vidocqs zu erhellen. Etienne Boisset befragt Bekannte und Zeitzeugen, deren Erinnerungen lassen das kriminalistische und wissenschaftliche Talent Vidocqs aufleben und erzählen von den Anfängen der Jagd auf den "Alchemisten", der Vidocq in den Tod gestürzt hat.

Der reale Vidocq war der berühmteste Ermittler seiner Zeit, ein ehemaliger Verbrecher, der zum Chef einer erstmal geschaffenen Geheimpolizei wurde. Die Figur Vidocqs ist vor allem in Frankreich auch aus mehreren Filmen und einer TV-Serie bekannt. Nun ist "Vidocq" eine fantastisch bis magische Mischung aus Phantomas und Sherlock Holmes. Ein schauerlicher historischer Thriller mit Matrix-Touch und der Maskerade von "Scream".

Im Gegensatz zum bisherigen digitalen Video arbeitet die neue Sony HD-Kamera erstmals mit film-üblichen 24 Bilder pro Sekunde, Probleme beim Transfer von den bisherigen 25 Bildern entfallen. Die digitalen Aufnahmen ermöglichten umfassende Nachbearbeitungen bei hoher Bildqualität, die Pitof exzessiv nutzte. Jedes einzelne Bild wurde speziell bearbeitet, was im Gegensatz zu digitalen Dogma-Filmen zu Kosten-Rekorden führte. Von den verzerrten Grimassen der rasant geschnittenen Eingangsszene bis zum Finale im Spiegelkabinett, das den Alchemisten mit seinen eigenen Waffen zur Strecke bringt, entsteht eine düstere Welt des Schreckens, ein Bilderbuch der Hässlichkeit. Vor allem beim zentralen Element der Geschichte, der spiegelnden Maske des unbekannten Mörders, erreichen die Effekte eine faszinierende Brillanz. Die Opfer des Alchemisten sollen sich im Moment des Todes selbst ins Angesicht blicken. Da die Maske konvex gekrümmt ist, mussten die "Gegenschüsse", die später auf dem Spiegel zu sehen sein sollen, mit einem 180°-Objektiv gedreht werden. Was in der Filmproduktion mit digitaler Nachbereitung geschieht, ist in der Handlung düstere Magie: Das jungfräuliche Blut der Opfer wird in einem alchemistischen Prozess zur Spiegel-Beschichtung des Glases verwandt. Im Finale entfliehen die erlösten Seelen der Toten dem ermattendem Spiegel.

Das Spektrum der zahlreichen an der Produktion beteiligten Trickstudios reicht von dunklen Wolkenkulissen bis zu verfremdenden Farbverschiebungen. In Frankreich spricht man angesichts der digitalen Tricks in "Vidocq", "Amelie" und dem "Pakt der Wölfe" von der "nouvelle vague" eines "cinéma hexagonal", eines "Kinos der Bytes". Dabei führen die technischen Möglichkeiten unübersehbar zu neuen Visionen - bei "Vidocq" und dem "Pakt" vor allem zu einer Historie, die nicht mehr nachgebildet, sondern weitgehend neu entworfen wird. Mit der nahtlosen Integration asiatischer Kampftechniken auch bei "Kiss of the Dragon" oder "Pakt der Wölfe" ergänzen sich Tendenzen im französischen Kino. Die Geheimpolizisten aus der Zweiten Republik Frankreichs tragen den langen schwarzen Ledermantel von Keanu Reeves aus "Matrix". So findet die Technik der Zukunft scheinbar besonderes Gefallen daran, auch die Vergangenheit zu erobern. Vidocq ist dazu ein ideales Objekt: Der als Erfinder der Geheimpolizei geltende Vidocq geht in einer düsteren, von Unruhen erschütterten Zeit mit fortschrittlicher Technik gegen den Aberglauben vor.

 

Übrigens gibt auch die offizielle Site des Film (http://www.vidocq-lefilm.com/) Rätsel auf: Wie bei einem Computerspiel öffnen sich verschiedene Räume einer Pariser Ansicht. Dort sind unter avancierter Animation versteckte Gegenstände zu entdecken.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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