Sekundenhaft aus Tiefstem

Otto Sander liest Carl Mayers "Sunrise"

Graz. Als Literatur gelesene Drehbücher reißen niemanden mehr vom Hocker. Doch was Graz 2003 als Kulturhauptstadt Europas mit einem Sprössling der Stadt, dem Stummfilmautoren Carl Mayer, und dem Schauspieler Otto Sander zusammenbrachte, war höchst wirkend und erneuerndst - um im Duktus Mayers zu bleiben.

Carl Mayer (1894 - 1944) schrieb Stummfilm-Klassiker wie "Der letzte Mann" (1924), "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920) oder "Sunrise" (1927). Tatsächlich gilt der in Graz geborene Jude als Gestalter dieser Filme, sagte doch gerade Karl Freud, der berühmte Entwickler der "entfesselten Kamera": "Ein Script von Carl Mayer ist schon ein Film." Graz 2003 feiert denn auch in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Filmfestival Diagonale vom 23. bis zum 30. März "Carl Mayer, Scenar(t)ist" und lud den Mimen Otto Sander ein, das Drehbuch von "Sunrise" zu lesen. Der Bühnen- und Filmstar ("Der Himmel über Berlin") probt - der Berliner Theatermisere überdrüssig - gerade an der Wiener Burg "Ödipus" und stürzte sich mit hörbarem Vergnügen in die ihm als Schauspieler nicht so fremde Materie. Gestikulierend, grimassierend, kommentierend suhlt er sich im dem Gerundium fortlaufenden Text, lässt die Worte amüsiert genießend unter dem Schnurrbart hervor perlen. Zwischendurch Ausrufe: "Das muss man erstmal spielen!" wenn auf die Frage der Verführerin "Liebst du mich", "der Mann sinnendumm ein Ja glucksend" vom "Apparat" eingefangen wird.

Liegt es an der unprätentiösen Kunst Otto Sanders oder an der knappen aber doch bildgewaltigen Sprache Mayers mit "hui-haft vorbei rasenden Landschaften", mit einer Straße, die "sich jäh ins Bild" reißt - "bergabhaft"? Auf jeden Fall läuft an diesem ausverkauften Abend tatsächlich ein höchst dramatischer Film um einen verführten Farmer, um Leidenschaft und wildes Großstadtleben ab.

Den Film "Sunrise", mit dem der berühmte deutsche Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau grandios in den USA scheiterte, gab es danach, wie auch die wenigen anderen Mayer-Werke, die er vor allem in Berlin schrieb, bevor er 1933 von den Nazis vertrieben wurde. Die zehn Exiljahre in London sind bis zu Mayers Tod von Not und Krankheit bestimmt. Jetzt wird er nach Graz zurückgeholt, in die steyrische Kulturhauptstadt Europa, die auf originelle Weise zeigt, was sie kulturell zu bieten hat. So finden sich zwischen ausgeleuchtetem Schlossberg, zwischen künstlicher Mur-Insel und schattenhaft verdoppeltem Uhrturm auch Videoinstallationen, die Carl Mayers spezielle Sprache, die Schnitte und Schrägen seiner Film und sein Leben entdecken lassen. Das Filmfestival Diagonale präsentiert den "Carl Mayer Drehbuchwettbewerb" und die üppige Publikation "Carl Mayer, Scenar(t)ist" (Hrsg. v. Omasta, Mayr, Cargnelli, 344 S. 35¤) unterfüttert die äußerst lebendige Mayerei.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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