Idoru
Zur Zeit geistert eine virtuelle Moderatorin aus Japan durch die Medienwelt. Der Science-Fiction- und "Neuromancer"-Autor William Gibson hatte die gleiche Idee und stellte sie ins Zentrum seines neuen Romans "Idoru". Idoru sind im Japan nach dem großen Erdbeben virtuelle Stars, die nur als technische Projektionen existieren. Menschen, deren Augen von Videokameras ersetzt wurden, sehen statt der Idoru nur eine "große Thermoskanne aus Aluminium". Doch der ganz reale Rockstar Rez kündigt seine baldige Heirat mit der Idoru Rei Toei an, was zwei Gruppen nervös macht. Ein amerikanischer Fanclub schickt ihr junges Mitglied Chia nach Tokio und der Leibwächter von Rez engagiert den besonders begabten Laney, um in den Datenströmen seines Schützlings irgendwelche Ungereimtheiten intuitiv zu erspüren.
Der Handlungsstränge der unbedarften Netzsurferin Chia und des genialen Daten-Spürhundes Laney laufen linear nebeneinander her, bevor sie im Finale aufeinandertreffen. Trotzdem reißt Gibsons neuster Roman mit, denn sein Talent liegt nicht komplexen Erzählstrukturen. Gibsons Visionen sind gefragt, und er schreibt die Zukunft nicht gewollt herbei, sie ergibt sich beiläufig im reichen Strom der Eindrücke.
CD-ROMs gelten im 21.Jahrhundert von "Idoru" als längst "überholte Medienplattform". Tokio wurde nach dem verheerenden Erdbeben mit Nanotechnik wieder aufgebaut: Programmierbare Maschinen in atomarer Größe, die sich nach getaner Arbeit selbst verwerten. Die Gebäude zeugen allerdings von einer angsteinflößenden Eigendynamik dieser Prozesse. Chia entspannt sich mit Hilfe eines alternativen Walkman-Computers im virtuellen Venedig. Jede Brücke hat dort ihre eigene Musik und als personifiziertes Lexikon taucht der Music Master mit langem Mantel und Hut auf. Wie so oft in den Entwürfen virtueller Welten wird auch hier das Böse eindringen. Es verseucht mühsam entworfene Räume im Cyberspace, zerstört die Schönheit von Kleidungsstoffen, die aus den letzten Videos der geliebten Stars bestehen.
Gibsons neuster (Ent-) Wurf ist reich an reizvollen und horrenden Utopien: Von der Bar, deren Raumgestaltung auf Kafka-Texten basiert, bis zur Identitätskontrolle mittels DNA-Codes im Ausweis. (Der sich selbstverständlich auch nicht als fälschungssicher erweist.) Der Fan-atismus riesiger Horden junger Mädchen findet seine zukünftige Entsprechung ebenso wie Enthüllungsmagazine des Fernsehens. Letztere sind internationale Mächte, die das ganze Showgeschäft kontrollieren. Der neuste Trend in Gibsons Zukunft sind allerdings die Meta-Magazine, die sich auf Skandale anderer TV-Sendungen spezialisieren.
Auch wenn die technische Entwicklung Gibson dicht an den Fersen hängt, seine Ideen begeistern immer wieder und liefern Material, die Gegenwart kritisch zu durchleuchten. Medial und digital Interessierten bietet "Idoru" sicher besonders viele Entdeckungen, aber es ist auch einfach ein spannender, origineller Science-Fiction.
William Gibson: Idoru. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins. 312 Seiten.
Günter H. Jekubzik
Eine Kritik vonGünter H.Jekubzik
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