Alex von Warmerdam
Er hat bislang nur vier Filme eigenständig realisiert. Diesind jedoch ganz und gar Filme vom Autoren, Regisseur, Darsteller,Komponisten und Produzenten Alex von Warmerdam. Und sie zählenjeder für sich zu den bemerkenswertesten Produktionen derNiederlande.
Gleich mit seinem ersten Kinofilm "Abel"gelang dem 1952 in Haarlem geborenen und vom Theater kommenden Alexvan Warmerdam eine Komödie die sowohl in Inszenierung als auchim Spiel Vergleiche mit Jacques Tati erlaubt. Abel hat Angst. Vor derWelt, denn er traut sich nicht vor die Tür zu gehen. Vor demErwachsenwerden, denn mit 31 Jahren lebt er wie ein kleiner Junge inder Wohnung seiner Eltern. Mit bösartiger Raffinesseschlägt er alle Versuche zurück, ihn ins öffentlicheLeben zu bringen. Ein arrangiertes Abendessen mit derTheater-Kollegin des Vaters schlägt fehl und reüssiertgleichzeitig als fein getimtes Festival der Peinlichkeiten. Seltenwar ein "netter Abend" mit Gebäck und saurem Hering so zumSchreien und Weglaufen - vor allem für das unschuldige Opferdieser überspannten Dreier-Konstellation. Schließlich irrtAbel wie ein verstörtes Kind durch die Straßen und findetUnterschlupf bei einer Stripperin, die ausgerechnet Geliebte seinesVaters ist. Die sich überschlagende Abfolge der Ereignissegönnt Abel einen Blick durch den Türgucker auf seinenErzeuger, der als Postbote verkleidet sein Liebchen becircen wollte.Die massiv eifersüchtige Mutter fällt bald auch bei derneuen Konkurrentin ein und im Finale mit der vereinten Viererbandegeht es auf Leben und Tod.
Vor comichaften Hintergründen gelang es Warmerdam alsKo-Autor, als Regisseur und als Abel-Darsteller vier extrem Figuren,vier der für den niederländischen Film so typischenseltsamen Charaktere, auszubalancieren. Die Stadt des gelerntenGrafik-Designers wirkt wie eine bunte Pappkulisse, die Fernglasblickevon der Wohnung der Eltern zum Zimmer der Geliebten (und zurück)erinnern an die Naivität früher Stummfilme. "Abel"ist ohne viel Worte verständlich, trotzdem dauerte es zehnJahre, bis der Film einen deutschen Verleih fand.
Sein neuester Film "Kleine Teun" (Little Tony) wurde 1998 in derCannes-Reihe "Un certain regard" vorgestellt und gleich an eine Reihevon Länder verkauft. Bislang hat noch kein deutscher Verleihzugegriffen. "Kleine Teun" treibt eine Dreier-Konstellation auf dieSpitze. Keet und ihr Mann Brand (Warmerdam) leben zusammen auf demLand. Brand ist Analphabet und das bedeutet im Land der untertiteltenOriginalversionen, daß Keet beim Fernsehen konstant vorlesenmuß. Das nervt, und so kommt nach viel hin und herschließlich eine Lehrerin ins abgelegene Haus. Ein gereiztesWechselspiel beginnt um Lust, Eifersucht, Kinderwunsch undMordgedanken. "Kleine Teun" ist eine schwarze Komödie, dieschließlich über Leichen geht. Der Stoff hätte einen"Hitchcock" ergeben können, würden die skurrilen Figurenihre Ecken und Kanten, ihre humorspendenden Eigenheiten aufgeben. Sokann man sich über diese seltsamen Typen amüsieren bis daserschreckte Lachen merkt, daß sie es tödlich ernstmeinen.
Im Vergleich mit Jacques Tati (auch Warmerdam zeigt sich in"Noorderlingen" alsDorfbriefträger) fällt das Menschenbild desNiederländers deutlich pessimistischer aus. Besonders deutlichmacht dies sein dritter Film "De Jurk" (Das Kleid), der nach vielenVerschiebungen am 24. September bei Arthaus startet. Er verfolgt denStoff eines Stoffes von der Baumwollflocke bis zum Häksler. DerHandlungsfaden wird zu einer Stoffbahn, ein Designer entwirft dasMotiv, Näherinnen fertigen ein blaues Sommerkleid mitBlümchenmotiv. Die Schicksale mehrerer Trägerinnen nehmenauch das Kleid arg mit. Liegt es am Stoff oder am Strickmuster derMannheit? Das dauergeile Nachtstellen der Trägerinnen kippt vomAbsurdem ins Tragische. Van Warmerdam selbst verkörpert einenBusfahrer, der bis zur Vergewaltigung geht. Der Stoffabrikant (HenriGarcin, einer der immer wiederkehrenden Darsteller Warmerdams) findetschließlich in der Obdachlosigkeit einem letzten Fetzen desStoffes. Das formale Meisterstück ist längst keineKomödie mehr, die Stimmung des Films ist düster wie niezuvor.
"De Noorderlingen", vanWarmerdams bislang erfolgreichster Film, hielt noch die Schwebe:Irgendwo in den niederländischen Dünen liegt der Rest einernicht zu Ende gebauten Siedlung. Diese Musterstraßeenthält hinter den gardinenlosen Fensterreihen alles, was dieNiederländer ausmacht. In der sanften Parodie mit poetischenSequenzen gibt es Heilige und Eifersüchtige, Lüsterne undPrüde, Religiöse und Rasende. Dafür wurde vanWarmerdam 1993 mit Europäischen Filmpreis Felix als besterNachwuchsregisseur ausgezeichnet. In der langen Preis-Liste findetsich der niederländische Filmpreis "Das goldene Kalb" für"Abel" und "Noorderlingen"sowie der Preis der internationalen Kritik von Venedig für"Abel" und "De Jurk". Wie es sichfür niederländische Filme gehört, schienen allerdingsdieses Meisterwerk und sein Macher bald in finanzieller Misere undVergessenheit zu versinken. Doch die ebenso mysteriöse wiegeneröse Förderung us-amerikanischer Verleiher füreingeborene Regisseure wirkt sich mittlerweile auch in denNiederlanden aus. Warner Bros. förderte die Warmer Bros. undübernahm den niederländischen Vertrieb von "Kleine Teun".(Hinter dieser Entwicklung steht allerdings vor allem Dirk de Lille,der Managing Director der niederländischen Warner. Schon alsEinkäufer von PolyGram brachte er acht einheimische Filmeheraus, u.a. "Zusje" und "DeJurk".) Produzent war übrigens die zusammen mit seinem BruderMarc 1993 gründete Firma Graniet Films.
Vom Theater mag auch die Vorliebe für eingeschränkteSets kommen. "Abel" wirkte lange Szenenüber wie aus dem Puppenhaus. In "Noorderlingen" gab eine ganze,irgendwo in Sand und Heide isolierte Straße das Versuchslaborfür typisch niederländische Regungen. "Kleine Teun" istebenso im flachen Nirgendwo angesiedelt. Die andere Welt - da wo Keettäglich hinfährt und Lena herkommt - erschließt sichBrand nur über die "Botschaften" aus den Einkaufstüten. Dereinzige Ausflug, der bei "Noorderlingen" an einen kleinen Waldteichging, wagt sich hier zum Angeln an einen nahegelegenenWässerungskanal. Nur bei "De Jurk" traute sich Axel vanWarmerdam sich viele Szenen "nach draußen".
Zur Zeit inszeniert Multitalent van Warmerdam mit seinerTheatergruppe "De Mexicaanse Hond". Das Stück wird März1999 in Amsterdam zur Aufführung kommen, ab Sommer nächstenJahres will er wieder drehen.
Günter H. Jekubzik
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