Dao, die Schildkrötenmutter

NL 1995 (Moeder Dao, de schildpadgelijkende) Regie Vincent Monnikendam, 90 Min.

Nach einer Legend der Bewohner von Nias im Westen Sumatras erschuf Mutter Dao die Erde. Sie sammelte ihre Ausscheidungen und knetete kniend daraus eine Kugel. Das war die Erde. Darauf wurde Mutter Dao ohne Mann schwanger und gebar ein Mädchen und einen Jungen. Dies waren die ersten Menschen. Sie lebten in einer fruchtbaren Welt.(Schöpfungsgeschichte von Nias)

Die Einwohner von Nias sehen vom Strand aus den Horizont halb gebogen wie den Schild einer Schildkröte. Deshalb nennen sie die Schöpferin der Welt, Mutter Dao, die "Schildkrötengleichende".

Das verwendete Archivmaterial des "Nederlands Film Museum" stammt aus den Jahren 1912 bis 1933. Seit Anfang des 17. Jahrhunderts beherrschten Niederländer Wirtschaft und Politik in Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien. Der Zweite Weltkrieg brachte die Besatzung durch japanische Truppen. Den britischen Befreiern folgten erneut die Niederländer, bis diese Ende 1949 die Herrschaft ganz (bis auf West Neuguinea) an eine schwache und kurzlebige Demokratie abgaben.

Die Kolonien waren ein Geschäftszweig der niederländischen Regierung - das zeigen die Filme deutlich. Über 200 Jahre (1602 - 1800) lag die Herrschaft so in den Händen der "Verenigde Oostindische Compagnie", einer Wirtschaftsorganisation.

Der 1936 in Den Haag geborene Vincent Monnikendam beließ die Stummfilmaufnahmen kommentarlos. Auf der Tonspur begleiten alte und moderne indonesische Lyrik sowie Gesang die eindrucksvollen Bilder.

DAO ist gelungen, weil Monnikendam den Originalaufnahmen breiten Raum läßt. Nicht sein Schnitt kommentiert die extrem einseitige Perspektive (die sich selbst genug bloßstellt). Tiefes, monotones Bassbrummen unterliegt der Rede des weißen Mannes. Gespenstische Töne geben den Bildern von Kranken eine weitere Bedeutung.

Dabei geht der Film sicher mit den Verführungen des Exotismus um: Eine traumhaft schöne Szene gaukelt Schnee in tropischen Breitengraden vor. Doch wir werden mit einer Baumwollverarbeitung in riesigem Ausmaß enttäuscht. Die ursprünglich scheinende Natur erleidet immer wieder Einschnitte der industriellen Verwertung, stellvertretend durch Abholzungen dargestellt. Nicht nur Minen werden ausgeschlachtet, auch die Ressource "Eingeborener" findet sich in Arbeitslagern hinter Stacheldraht. Die Arbeit von Kinder und das eifrige Kolonialisieren von Priestern gehören ebensfalls zum Vorrat der Eindrücke.

Siebzig Jahre später ist der Blick zweifach gebrochen. Politisch wissen wir zumindest besser, was damals falsch war. Medien-physiologisch müssen wir uns in die Blickweisen damaliger Kameramänner einfinden. Aus der Distanz aufgenommen steht der weiße (und weiß bekleidete Mann) zentral. Der Auftrag war klar, die damals wachsende Nationalbewegung kommt selbstverständlich nicht ins Bild. Doch enthüllen die Aufnahmen am Rande und im Hintergrund viele Hinweise auf Machtverhältnisse und Arbeitsbedingungen.

Wie aktuell ihre Kolonialgeschichte für die Niederlande immer noch ist, hielten einem bei der Premiere des Films auf dem 24. Internationalen Filmfestival von Rotterdam (1995) nicht nur die Tabakwerbungen des Mitsponsors Javaanse Jongens vor Augen. Erst Monaten zuvor erhielt ein Niederländer, der sich in Kolonialkämpfen gegen seine Truppe stellte, unter großem publizistischem Aufsehen nach jahrzehntelangem Zwangsexil eine stark beschränkte Einreisegenehmigung für sein Heimatland.

Nicht nur bei MOEDER DAO, DE SCHILDPAADGELIJKENDE faszinierte der kreative Umgang des "Nederlands Film Museum" mit dem vergänglichen Stummfilm-Material, dessen Ergebnisse schon bei LYRISCH NITRAAT und FORBIDDEN QUEST zu bewundern waren.

Monnikendam arbeitet seit 1964 als Regisseur, Produzent und Redakteur beim niederländischen Fernsehen. Seinen anteilnehmenden Dokumentationen geht immer eine sehr lange Recherche voraus.

Herausragender literarischer Kritiker der Zustände in den indischen Kolonien war Multatuli mit seinem Roman MAX HAVELAAR (1860). Dieses Meisterwerk der Weltliteratur basiert auf eigenen Erfahrungen Multatulis als Kolonialbeamter der niederländischen Regierung. MAX HAVELAAR wurde 1976 von Fons Rademakers verfilmt.


Eine Kritik vonGünter H.Jekubzik

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