Leolo

Fr/Kan. 1991, R.u.Buch: Jean-Claude Lauzon, 110 Min.

Poetische Zettel-Träume

Von Günter H. Jekubzik

"Ich träume, also bin ich nicht ..." Dieser Satz ist Lebensanker für den vierzehnjährigen Leo Lozeau im Armenviertel Montreals. In einer ständig vom Wahnsinn bedrohten Familie ist Leo der einzige, der den Unterschied zwischen einer Plastikrose und der Schönheit einer wirklichen sieht.

In seinen Tagebüchern, die er nächtens schreibt, behauptet Leo Lozeau, er hieße Leolo Lozone und allein "Leute, die nur an ihre eigene Wahrheit glauben", nennen ihn Leo. Demnach ist Leolo der Sohn einer dicken, gutmütigen Kanadierin und einer Tomate. Über den Import dieser inseminierten Südfrucht erklärt Leolo seine sizilianische Herkunft. Das Beharren auf den Namen Leolo Lozone ist kein Spleen, sondern im Gegenteil eine gesunde Phantasie, denn der väterliche Teil von Leos Familie findet sich immer wieder zum geselligen Sonntagstreffen in der Heilanstalt zusammen.

Leolos Phantasie beschert uns einen traumhaften Film. In drei Ebenen - dem Lesen, dem Schreiben und dem Erleben - springt er wild von einem Ereignis zum anderen: Die größtenteils auf dem Klo verbrachte Kindheit, da der Vater einen Abführungswahn hatte. Der einfältige Bruder, der sich nach einem Nasenstüber zum Muskelberg aufblies, ohne an innerer Stärke zu gewinnen. Vor allem sein Traum mit dem Namen Bianca: Eine junge Nachbarin, die ihn durch die Tür des Kleiderschrankes aus den dunklen, feuchten Wohnungen ins helle, klare Traumland Sizilien entführt.

"Leolo" ist eine ganz besondere Kindergeschichte, erzählt aus fast verwehten Fetzen eines schreibenden Heilungsversuches, die ein Dompteur der Worte auf seinen Streifzügen durch die Mülleimer fand. Diese Reinkarnation des Don Quichote vermischt die Asche von Texten und Bildern, damit Menschen träumen können. Der gütige alte Mann führte Leo auch das Buch zu, daß der Junge mit Mütze und Handschuhen bekleidet, nachts im Licht der Kühlschranklampe liest.Ein Buch, das zuerst als Unterlage eines Tischbeines den Tisch, und dann Leos Seele ins Gleichgewicht bringt.

Der erschlagende Musikmix, den Lauzon über zwei Jahre zusammengesucht hat, mit italienische Schnulzen ("Nur der Traum ist für mich die Realität"), Tom Waits, spanische Choräle und den Stones, trägt viel zur Wirkung dieses erschreckend komischen und melancholischen Films bei.

Wie autobiographisch "Leolo" ist, macht schon die Namensähnlichkeit zwischen der Figur Leo Lozeau und dem Regisseur Jean-Claude Lauzon klar. In einem Interview behauptete er, zwei Drittel der Geschichten seien wahr, genau so wie es der Film zeigt, sei seine Familie. Seinen ersten Film "Night Zoo" (als Starlight-Video zu sehen) widmete der 39-jährige dem Vater. Die knallharte Geschichte im Drogen- und Prostitutionsmilieu läßt der bedrohten Leid-Figur nur ein paar Träume und die Flucht. Im Gegensatz dazu ist "Leolo" ein wahnsinniges Vergnügen, macht aus dem Unerträglichen ein ungestümes Meisterwerk. Die unkontrollierte Lebenslust, die Lauzon aufs Motorrad, ins Flugzeug, in die Wälder und die Meere treibt, hat in "Leolo" eine faszinierende Form bekommen. "Leolo" begeistert durch Poesie in Bild und Wort, denn Lauzon ist vor allem ein Autor und sieht sich nicht als Filmemacher. Er beschreibt den Wahnsinn als Allegorie für die Sackgasse der Armut, aus der er mit Hilfe eines väterlichen Freundes (Dompteur der Worte) und der Literatur entkam: "Ich träume, also bin ich nicht ... verrückt."


Eine Kritik vonGünter H.Jekubzik

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