Kundun

GB 1997 (Kundun) Regie Martin Scorsese, 133 Min.

Der kleine Tibeter, der 1937 an der Grenze zu China geboren wurde,erscheint als erstaunliches Kind: Dem Vater macht er alszweijähriger den Platz am Kopf des Tisches streitig, "Das istmein" lautet sein häufigster Satz und er wird nicht müde,die Geschichte seiner Geburt zu hören. Irgendwann fällt derJunge buddhistischen Mönchen auf und bei einem Test bezeichneter die persönlichen Gegenstände des verstorbenen Dalai Lamaals seine eigenen. Als Kundun (sprich Kundün), als 14.Reinkarnation des Dalai Lama wird er nun in den Palästen vonLhasa als geistiger und politischer Herrscher der Tibeter erzogen.Diese Zeit erlaubt einen vorsichtigen Einblick in tibetanischeGlaubens- und Herrschaftsformen. Sie zeigt einen modernen Dalai Lama,der an den Errungenschaften des Westens ebenso interessiert ist, wiean den neuesten Radionachrichten. Die früh erkennbareReformbereitschaft war schon seinem Vorgänger, dem 13. DalaiLama zu eigen. Als das kommunistische und atheistische China 1950überfällt, beginnt eine Zeit des Terrors und derUnterdrückung. Aber erst neun Jahre später, nachVerhandlungen und Verständnisversuchen der pazifistischenTibeter, flieht der Dalai Lama nach Indien: Resignierend sagt einBerater: Gewaltlosigkeit braucht lange, bis sie aufblüht.Seitdem setzt Kundun sich aus diesem Exil für sein Volk ein.

Melissa Mathison schrieb "Kundun" basierend auf derLebensgeschichte des Dalai Lama. Nach ausführlichenBesprechungen von Mathison (und ihrem Mann Harrison Ford) beim DalaiLama wurde das Drehbuch auch von diesem autorisiert. Für dieFrage nach dem Reiz, den Tibet im Westen ausübt liefert "Kundun"viel Material, aber keine Antwort. Er ist ein auch politischer Film,jedoch ohne einen plakativen Moment. (Im Gegensatz zur Banalität"7 Jahre in Tibet".)So gibt es auch Raum für Zweifel: War das kleine Kindaußergewöhnlich oder nur furchtbar eigensinnig?

Der wunderbar kluge, sanfte, faszinierende und berührendeFilm wurde fast ausschließlich mit Exil-Tibetern gedreht. WerScorseses Filme kennt, möge "Taxi Driver","Good Fellas" oder"Casino" vergessen. Für "Kundun"stellt sich die Filmkunst des Amerikaners bescheiden in den Diensteines ganz anderen Sujets. (Und es wäre sehr reizvoll "Kundun"zusammen mit Scorseses anderem "religiösen" Film "Die letzteVersuchung Christi" zu sehen.) Nach den weltweiten (film-)politischen Diskussionen um "Kundun", den heftigen chinesischenDrohungen, erstaunt, daß die Gewalttaten der ChinesischenRegierung und deren Soldaten gar nicht explizit und drastischdargestellt werden. Doch die symbolischen Bilder Scorseses sindvielleicht wirkungsvoller als Standard-Szenarien von Überfall,Mord, Vergewaltigung und Zerstörung. Auch für dieEinsamkeit des Kindes und jungen Manns fand der Film eine eigeneSprache: Er sucht den verlorenen Dalai Lama mit Bildsprüngen inder riesigen Fassade der Tempel und findet einen sehnenden Blickhinter Vorhängen und Fensterläden. Nur mit dem Teleskop istder kindhafte Führer der Außenwelt nahe. Zwischenmontiertsind faszinierende Detailaufnahmen und Zeitraffer von der Entstehungeiner Mandala und deren Zerstörung.

"Kundun" ist die Arbeit eines Teams außerordentlicherKünstler: Wie immer schnitt Thelma Schoonmaker Scorseses Film.Die betörend schönen Bilder gestaltete Roger Deakins, dervierfach oscarnomierte Dante Ferretti realisierte die Ausstattung undPhilip Glass komponierte die Filmmusik.


Eine Kritik von Günter H.Jekubzik

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