Locarno 2002: Zwischen Mainstream und Maniacs

Ein völlig durchnässter Nanni Moretti, der einsam im strömenden Regen auf der Piazza Grande ausharrt. Es läuft Pavel Lounguines "Un Nouveau Russe". Über zehntausend Zuschauer, die für "Insomnia" jeden Quadratzentimeter des gleichen Open Air-Kinos besetzen. Das sind die Pole von sehr populärer Hollywood-Programmierung und anspruchsvollem Weltkino zwischen denen sich eine feucht-fröhliche Locarno-Ausgabe 2002 bewegte.

Preview-Piazza
Das Internationale Filmfestival von Locarno konnte schon im Vorfeld seiner 55. Ausgabe (1.-11.8.2002) einen großen Erfolg verbuchen. Die Südschweizer wurden in die "erste Liga", den exklusiven Kreis von weltweit zwölf A-Festivals, aufgenommen. Die Festivaldirektorin seit 2001, die römische Filmkritikerin Irene Bignardi, hätte also nach den begeisterten Stimmen zu ihrem Debüt, nach einem deutlich auf über 9 Millionen Schweizer Franken (ca. 6 Mio. Euro) gewachsenem Etat mutig programmieren können. Zwar ist ihre Nähe zur aktuellen auch politischen Themen an mehreren Stellen zu erkennen, doch das Programm der Piazza Grande, mit seinen allabendlichen Open Air-Vorstellungen am Lago Maggiore das Herzstück des Sommerfestivals, gab 2002 dem Mainstream einen großen Raum, es waren gleich drei Blockbuster zu sehen. "Insomnia" von Christopher Nolan ("Memento"), "The Bourne Identity" von Doug Liman und "Signs" von M. Night Shyamalan ("The Sixth Sense") werden ebenso sicher in den deutschen Kinos laufen wie andere "Previews": Die Multikulti-Komödie rund um den Mädchenfußball "Bend it like Beckham", für die Gurinder Chadha den Publikumpreis gewann, die geistreiche Oscar Wilde-Verfilmung "Ernst sein ist alles" (The Importance Of Being Earnest) und die britische Blödelkomödie "Ali G Indahouse". Letztere ist keineswegs Piazza-würdig und bildet einen absoluten Niveau-Tiefpunkt für dieses Festival.

Wettbewerb des A-Klasse?
Der Internationale Wettbewerb wurde mal wieder von der Piazza runter genommen. Man fühlt sich bei dieser wechselhaften Locarno-Sektion wie die TV-Moderatorin mit dem lästigen Part "Was bisher geschah ...". Doch das kann vorerst vergessen werden: Der Wettbewerb ist dank Anerkennung durch die internationale Produzentenvereinigung ("A-Status") jetzt offen für alle Filme. Die Konzentration auf erste und zweite Werke soll zwar bestehen bleiben, aber die albernen Hilfskonstruktionen "... und Werke junger Filmländer ...", "... und Werke besonderer Filmschaffender ..." entfallen zum Glück. Jetzt geht es nur noch darum, Filme zu zeigen, die gut, wichtig, spannend, interessant sind. Was in einigen Fällen gelang.

Für die große Überraschung sorgte der Hauptpreis. Der mit 90.000 Schweizer Franken prämierte Goldenen Leoparden ging an "Das Verlangen" von Iain Dilthey, einen Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg. Die deutschen Wettbewerbs-Beiträge sorgten anfangs für heftige Diskussionen. "Sophiiiie!" von Michael Hofmann irritiert durch die gnadenlose Naivität, mit der sich die junge Sophie in eine Nacht der Entscheidung stürzt. Sie ist schwanger, weiß aber nicht von wem. Wie Selbstmordversuche, Vergewaltigungen, Prügeleien, heftigste Alkoholräusche und andere Exzesse bei der Klärung helfen sollen, bleibt rätselhaft. Doch so sehr die überzogene Konstruktion abschreckt, im Einzelnen gelangen Hofmann und seiner Hauptdarstellerin Katharina Schüttler bewegende Momente um die provokante und lebenshungrige Figur Sophie.

Völlig gegensätzlich fesselt der Überraschungssieger "Das Verlangen" mit der nüchternen Aufzeichnung eines tragischen Frauenlebens in der süd-badischen Provinz, das entfernt an Fassbinders "Martha" erinnert. Lena (Susanne-Marie Wrage) lächelt selig, wenn sie ihrem Mann, dem Priester, jeden Tag in den frisch gebürsteten Mantel hilft, wenn sie von der pflegebedürftigen Schwägerin geschlagen und beleidigt wird. Abend beim Beischlaf lächelt sie nicht mehr, es ist sowie dunkel, ihr Gesicht abgewendet. Im zeitlos provinziellen, grauen Mief lebt Lena wie eine Dienstmagd bis der Mechaniker Paul auftaucht. Dass gleichzeitig der Mörder eines Mädchens gesucht wird, macht den zaghaften Ausbruch Lenas zur Tragödie. "Das Verlangen" erzählt trocken und nüchtern, packt mit der Duldsamkeit seiner stillen Hauptfigur und lässt das teilweise laienhaft steife Aktieren anderer Darsteller vergessen. Mi dem spröden Werk beendet der Schotte Ian Dilthey seine "Sehnsuchtstrilogie" ("Sommer in Horlachen" 1999, "Ich werde dich auf Händen tragen" 2000).

"Man, Taraneh, panzdah sal daram" (Regie Rassul Sadr-Ameli) aus dem Iran, die typisch einfache und doch fesselnde Geschichte eines jungen Mädchens, das sich entscheidet, Mutter zu werden, erhielt sowohl den Spezialpreis der Jury als auch den Darstellerpreis für die junge Taraneh Allidousti in der Hauptrolle. Als Bester Schauspieler in Locarno wurde Giorgos Karayannis gekürt. Er spielt im griechischen "Diskoli Apocheretismi: O babas mou" von Penny Panayotopoulou einen Jungen, der den Tod des Vaters nur langsam bewältigt.

Menschenleere Landschaften und Familien
Neben den ausgezeichneten kleinen Filmen waren auch große Namen im erneuerten Wettbewerbsmodus: Der mit "Psycho" und "Good Will Hunting" auf kommerzielle Abwege geratene Gus Van Sant polarisierte mit "Gerry": Zwei junge Männer (Matt Damon, Casey Affleck) verirren sich bei einem Wanderausflug in eine existenzialistische, menschenleere Weite. Fast ohne Dialog und mit atemberaubenden Bildern ist "Gerry" ein faszinierend offener Film. Die einsame Weite eines Menschen verkörpert Robin Williams in "One Hour Foto" des Musikclip-Regisseurs Mark Romanek: Als verschwindend blasser Angestellter eines Fotolabors entwickelt Sy Parrish eine obsessive Beziehung zur Familie einer Kundin und greift, als diese betrogen wird, auf bedrohliche Weise zum Fotoapparat. Vor allem das Farb-Styling um Sy fasziniert, ansonsten bleibt ein weiteres Psychogramms eines extremen Täters. In "Aime Ton Père" trieb die Kälte eines lieblosen Vaters Paul in die Drogenabhängigkeit. Als sein Vater Leo den Nobelpreis für Literatur erhält, fängt der wütende junge Mann den gestandenen Schriftsteller auf der Autobahn ab und entführt ihn zu einer klärenden Reise in die Vergangenheit. Vater und Sohn, Gérard und Guillaume Depardieu, machen diesen einfühlsamen Film bewegenden Erlebnis. Jacob Berger realisierte nach dem überzogenen "Angels" (1990) ein rundes, stimmiges Psychogramm einer Familie - der am besten gelungene konventionelle Erzählfilm des Wettbewerbs.

Maximilian Schell drehte die anrührende Dokumentation "Meine Schwester Maria" um den einstigen Weltstar Maria Schell. Wie in seinem letzten Porträt "Marlene" (1984) nähert er sich einer von Krankheit und Alter gezeichneten Frau sehr vorsichtig, ungelenke Spielszenen mit Laien, Erinnerungen an Filmauftritte mit Yul Brunner oder Garry Cooper leiten über zu den persönlichen Abgründen Maria Schells, zu einem Selbstmordversuch, zu Realitätsverlust mit folgender Überschuldung. Trotz der bekannten Selbstinszenierung von Maximilian Schell gelang ihm ein nahe gehendes Porträt eines ehemaligen Stars und einer Schauspielerfamilie.

Gleich in den ersten Tagen warnte "Cinemanic", eine Koproduktion der Filmstiftung NRW, vor zu intensivem Filmgebrauch. Die Dokumentation über exzessive Filmfreaks in New York von der Deutschen Angela Christlieb und dem Amerikaner Stephen Kijak gehörte zu den Höhepunkten der Kritikerwoche und des Festivals. Ihre Objekte amüsierten und schockierten mit einer extremen Fixierung auf Filme, für die sie sogar auf eine Ernährung ohne Ballaststoffe umstellen, um "störungsfrei" jeden Tag 6 Filme sehen zu können. Stolz zeigt einer die Sammlung seiner Soundtracks, einen Plattenspieler hat er allerdings nicht. Eine andere fällt die Platzanweiserin an, als diese es wagt, die Eintrittskarte einzureißen.

Festival "in Progress"
Die Ereignisse waren in Anwesenheit vieler Filmemacher und Schauspieler zahlreich: Der Produzent und Regisseur Sydney Pollack ("Die Firma", "Out of Africa", "Tootsie", "Die drei Tage des Condor") wurde mit einem Ehren-Leoparden ausgezeichnet. Das wieder in Mode kommende Bollywood-Kino Indien erhält mit "Indian Summer" eine Retrospektive, ebenso der amerikanische Regisseur Allan Dwan (1885 - 1981). Zu beiden Themen erschien eine Monographie. Ein ganzer Tag widmete sich dem Film in und über Afghanistan, besonders hier zeigte sich Irene Bignardis Engagement für aktuelle politische Themen.

Insgesamt ging es (in) Locarno 2002 glänzend, auch wenn die Piazza Grande mit den abendlichen Open Air-Vorstellungen sehr oft im Regen stand: In zehn Festivaltagen wurden beinahe 350 Filme gezeigt, im Vorjahr waren es nur 250. Auch der Etat wuchs, keiner redet in der Schweiz von Krise, die Tessiner Presse befürchtet eher, dass ihr Festival zu groß wird. "In Progress" lautet eine neue Programmreihe - der Titel passt auch gut zu einem sich immer wieder rasch erneuernden Festival. Tägliche Lesungen, Gespräche und Vorführungen drehten sich um das Schreiben (für den Film). Im nächsten Jahr wird Musik das Thema sein. Ein weiteres Kino konnte eröffnet werden, ebenso ein sehr kommunikatives Diskussionsforum, das architektonisch eine Brücke zwischen den Kino-Sälen bildet. Hier kann jeder an den Gesprächen nach dem Film teilnehmen, das besonders wache Publikum Locarnos erweist sich meist als aufmerksamer, wacher als die übliche Presserunde. Auch auf der Piazza und in den Sälen reagiert das Publikum sensibler als auf anderen Festivals. Der von David Streiff und Marco Müller etablierte Blick auf den asiatischen und den afrikanischen Film soll erhalten bleiben - sagt zumindest die politische Geldgeberin Bundesrätin Ruth Dreifuss. In der Offenheit zum Publikum und zum Kino der Welt liegt auch die Zukunft für dieses Festival zwischen den Großen Cannes, Berlin, Venedig und den vielen kleinen.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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