Locarno 1992

Locarnos "Festival Internazionale del Film", das kleine der großen A-Festivals, vertagte in seinem 45.Jahr den mit Spannung erwarteten Konzeptwechsel und versuchte sich in der Konsolidierung eines anspruchsvollen und zugleich publikumsträchtigen Programms. Nachdem der überaus erfolgreiche David Streiff als Festivaldirektor am Lago Maggiore vom Weltbürger Marco Müller abgelöst wurde, führte dessen Wunsch, Locarno mit möglichst vielen Weltpremieren von den Konkurrenten Cannes oder Venedig abzugrenzen, zu einem Qualitätsverlust auf der Piazza-Grande. Das riesige Freiluftkino bot an vielen Abenden nur seine unvergleichliche Atmosphäre als Anziehungspunkt für tausende Zuschauer. Mit außergewöhnlich guten Filmen wie "El Vieja", Fernando E. Solanas Lateinamerika-Reise, in der Regisseur seinen Kontinent film-satirisch aus den Angeln hebt und untergehen läßt oder der wahnsinnigen Jungengeschichte "Leolo", einer Art "Barton Fink"-Junior vom Kanadier Jean Claude Lauzon, ließen Schweizer Verleiher in ihren kommerziellen Präsentationen die riesige Leinwand der Piazza verblassen.

Im Wettbewerb für Nachwuchsregisseure und -filmnationen verteilte die Internationale Jury ihre Edelmetall-Leoparden vorwiegend an Beiträge, die sich auf kleine menschliche Geschichten konzentrierten. Gold gab es für "Qiuyue" (Herbstmond) der in Macao geborenen Clara Law. Ausgehend von der Frage, was die Loslösung von einzelnen Kulturen für Menschen bedeutet, führt sie einen japanischen Jungen und ein Schulmädchen aus Hongkong zusammen. Ohne dramatische Ereignisse zeigen alltägliche Details verlorene Individuen in einem sich auflösenden Hongkong, das vielleicht für die moderne Welt an sich steht. Gänzlich ziel- und sinnlos erscheint das Leben des kasachischen Jungen "Kairat", der Silber erhielt. Das graue Umherirren, vom Regisseur Darezhahn Omirbaev in karge, unauffällige 72 Minuten gefaßt, wird auch formal nur von überraschenden Traumsequenzen aufgelöst.

Bei der Bekanntgabe der drei Bronzenen Leoparden kritisierten lautstarke Pfeifkonzerte unverständliche Entscheidungen der Jury. Neben dem meditativ ruhigen "Holozaen" nach Max Frisch wurde die israelische Action von "Eddie King" überbewertet. Von den drei deutschen Wettbewerbskandidaten erhielten nur "Die Terroristen!" von Philip Gröning einen Preis. Die unbestimmte Chronologie eines mißglückten Anschlages bot ein wenig Humor, durchgehend Kohl-Satire und manchmal Genreansätze bei wildem Aktieren und freiem Stil. Auch Uwe Schrader wird mit seiner mangelhaften Milieu-Geschichte "Mau-Mau" nur wenig Freunde finden. Wolfgang Beckers "Kinderspiele" boten dagegen richtiges Kino und integrierten ihre Menschen in eine fesselnde Geschichte. Hintergrund ist ein deutsches Wirtschaftswunder, das einige außen vor läßt: Michas Vater setzt seine ganze Energie in den Bau des eigenen Hauses, der kleine Bruder ist eine von der Mutter verhätschelte Nervensäge, der Freund Kalli führt Micha in die Pubertät ein. Das faszinierende Spektrum der Erinnerungen von Becker und seinem Ko-Autoren Horst J. Sczerba wurde vielleicht bei den Auszeichnungen übergangen, weil der Regisseur schon für "Schmetterlinge" einen Goldenen Leoparden erhielt.

Die Retrospektive zeigte in fast 50 Filmen, weshalb der italienische Regisseur Mario Camerini bisher verkannt wurde. Zu den Höhepunkten gehörten wieder die Filme der "Woche der Kritik" und die von den Redakteuren der Filmzeitschrift "Positif" zum ihrem vierzigjährigen Jubiläum ausgewählten Klassiker mit John Boormans "Leo the Last" als herausragende Wiederentdeckung. Diese "Gastbeiträge" verhüllten ein an sich sehr mageres Programm ohne eigene Glanzlichter.
Passend zur konzeptionellen Abkehr Locarnos von Kino der großen Effekte und Affekte wurde die Verleihung des Ehren-Leoparden an Manoel de Oliveira mit dem neuesten Werk des Altmeisters gekrönt. Nach der bewegenden Huldigung durch Jean Rouch stellte "O dia do desespero" als auf seine Theaterwurzeln reduziertes Kino die Geschmäcker auf die Probe. Bei der filmischen Spurensuche über alle Kontinente fiel das Gewaltpotential der unabhängigen amerikanischen Beiträge auf. "Juice", "My crazy life" oder "Zebrahead" zeigten immer wieder die mörderische Situation der Farbigen, meist mit einer tödlichen Explosion am Ende.


Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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