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Das Erbe (2003)
ARVEN
ARVET
INHERITANCE
Dänemark/Norwegen/Schweden/Großbritannien, 2003
Produktionsfirma: Zentropa/Produksjon 4 1/2/Memfis Film/Zoma Films/TV2 Danmark/Fjellape Film/Trollhättan Film/Invicta
Verleih: Kino: Arsenal
Länge: 107 Minuten
FSK: ab 12; f
fd: 36850
Produktion: Ib Tardini, Gillian Berrie, Anna Anthony, Turid Øversveen
Regie: Per Fly
Buch: Per Fly, Kim Leona, Mogens Rukov, Dorte Høeg
Kamera: Harald Gunnar Paalgard
Musik: Halfdan E
Schnitt: Morten Giese
Darsteller: Ulrich Thomsen (Christoffer), Lisa Werlinder (Maria), Ghita Nørby (Annelise), Karina Skands (Benedikte), Lars Brygmann (Ulrik), Peter Steen (Niels), Diana Axelsen (Annika), Jesper Christensen (Holger Andersen)
Das Erbe
Wer ins Kino geht, um sich einen ,,gesellschaftskritischen" Film anzuschauen,
macht sich normalerweise auf ungewaschene Armut gefasst, harsche Worte, beengte
Wohnverhältnisse und himmelschreiende Ungerechtigkeiten. In seinem Spielfilmdebüt
,,The Bench" (2000), der Fall-Studie eines alkoholkranken Sozialhilfeempfängers,
bewies der dänische Regisseur Per Fly, dass er sich in diesem Metier
bestens zurecht findet, ohne sich an melodramatischen Klischees entlang hangeln
zu müssen. Gleichzeitig bildete ,,Die Bank" den Auftakt einer Trilogie,
die sich nacheinander drei Gesellschaftsklassen annäherte: der Unter-,
der Mittel- und der Oberschicht, in der jetzt ,,Das Erbe", der zweite Teil,
spielt. Bei ,,Upperclass-Filmen" wiederum denkt man gleich an Villen, Schmuck,
jugendschöne oder schönoperierte Menschen und ihre gelackten Intrigen.
Dazu passt es, dass Flys neuer Film als ,,Familiendrama" angepriesen wird,
was er tatsächlich ja auch ist. Aber keineswegs ausschließlich
oder auch nur in erster Linie. Vielmehr gelingt es Fly mit ,,Das Erbe", Gesellschaftskritik
auf subversive Weise in der Perspektive eigentlich sozial Privilegierter
zu verankern. Fly klagt nicht an, führt seine Protagonisten nicht vor,
sondern versetzt sich in ihre Lage und offenbart gerade dadurch menschliche
Schwächen und destruktive soziale Zwänge. ,,Das Erbe", das Christoffer,
der einzige Sohn eines dänischen Stahlriesen, antritt, entwickelt sich
zur familiären Bürde, an der seine Persönlichkeit nach und
nach zerbricht.
Als junger Mann war Christoffer aus dem Familienunternehmen ausgestiegen, um in Stockholm ein Restaurant zu eröffnen. Dort führt er zusammen mit seiner Frau Maria, einer aufstrebenden Theaterschauspielerin, ein unbeschwertes, glückliches Leben, bis eines Tages unerwartet Christoffers Vater zu Besuch kommt. Man sitzt zusammen, scherzt ein wenig steif, am Ende aber geht man wohlgemut auseinander. Kurz danach erhält Christoffer einen Anruf: sein Vater hat sich umgebracht. Von da an ändert sich alles.
Christoffer erfährt, dass die Firma in großen finanziellen Schwierigkeiten steckt, seine Mutter drängt ihn, wenigstens vorübergehend die Konzernleitung zu übernehmen. Gegen Marias Einwände erklärt er sich dazu bereit. Zwischen Christoffer und seinem Schwager, der sich aus dem Unternehmen ausgebootet fühlt, kommt es zum Eklat. Langgediente Mitarbeiter fallen der neuen, rücksichtslosen Sanierungspolitik zum Opfer. Christoffer schließt Maria aus seinem Alltag aus, der fast nur noch aus Arbeit besteht. Beide leben aneinander vorbei, Christoffer verzeiht ihr einen Seitensprung, und Maria übt sich in Geduld. Ein gemeinsames Kind kommt zur Welt, aber eine Familie entsteht daraus nicht. Christoffer reibt sich in der Firma auf. Humor, menschliche Wärme, Lebenslust gehen ihm verloren, bis er kaum noch mehr ist als ein mechanisch funktionierendes Gerippe, ein Rädchen einer gnadenlosen Maschinerie, das jüngste Glied einer Ahnenreihe. Lange harrt Maria an seiner Seite aus. Auch nachdem sie ihn verlassen hat, hält sie ihm noch immer die Tür in ein einfaches, glückliches Leben offen. Christoffer aber wagt den Schritt nicht. Dass einen das nicht kalt lässt, dass man sich nicht einfach abwenden und ,,selbst schuld" sagen kann, dass es einem die Tränen in die Augen treibt vor Wut und Trauer, ist die besondere Leistung von Flys Regie. Die Nähe, die er zu seinem Helden aufgebaut hat, hält einen auch dann noch gefangen, als der sich längst in einen Antihelden verwandelt hat. Verständnis und Unverständnis liefern sich einen zermürbenden, aufwühlenden Kampf. Soziale Sachzwänge werden dramaturgisch pointiert und dennoch glaubhaft aufgebaut, am Ende aber münden sie immer in eine Wahl. Erst dadurch, dass Christoffer nicht in Bausch und Bogen verdammt wird, erhält die Kritik an seinem Lebensweg eine konstruktive Dimension: er könnte auch anders. Ganz bewusst lässt Fly hierbei die Grenzen zwischen Familie und Betrieb verwischen und Christoffer an seinem Versuch, beides auseinander zu halten, scheitern. Privates und Gesellschaftliches bedingen sich wechselseitig. Diese ambitionierte sozialpsychologische Perspektive wirkt deshalb kaum aufgesetzt oder schulmeisternd, weil sie an individuelle Charaktere gebunden bleibt.
Ulrich Thomsens (,,Das Fest") ungeschminktes Spiel und die einfühlsamen
Darbietungen des restlichen Ensembles durchdringen die stählerne Fassade
einer superreichen Großindustriellenfamilie. Zwar greift auch ,,Das
Erbe" bisweilen auf gängige Klischees wie beispielsweise das von der
hartherzigen Übermutter und inszenatorische Paukenschläge zurück.
Seiner Dramaturgie aber kommt zugute, dass nicht immer vorhersehbar ist,
wie sich die Protagonisten verhalten werden. Keineswegs treffen sie durchgehend
die falschen Entscheidungen oder rennen blindlings in ihr Unglück. Stets
hält Fly Christoffer die Möglichkeit offen, auch mal ,,Nein" zu
sagen. Lange möchte man ihn deshalb durchschütteln und wachrütteln,
bis man am Ende schmerzhaft einsehen muss, dass es dafür wohl zu spät
ist.
Stefan Volk
Kritik aus film-dienst Nr. 1/2005 Fenster schließen
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