Berlinale 1998 - Im Schlaraffenland

Ein Festivalbericht von Oliver Schiffers


Die 48. internationalen Filmfestspiele in Berlin
11. - 22. Februar 1998

Der Wettbewerb zählt. Nur der Wettbewerb. Meine aufrichtige Bitte um Verzeihung an die Vertreter der Filmkunst-Sektion, der Liebhaber des neuen, innovativen Kinos für Wenige im Forum und der meist gut besetzten Panorama-Reihe.
Mein Paradies sind die Filme, die nicht nur emotionale und visuelle Macht ausüben und eine bissige,ernste, wunderschöne oder zynische Geschichte erzählen können sondern auch von der verbotenen Frucht eines breiten Publikum naschen wollen. Die meisten dieser Filme finden sich jedes Jahr aufs neue im Wettbewerb der großen Festivals von Berlin, Venedig und Cannes. Dieses Jahr in Berlin waren es sogar erfreulich viele - Aber zuerst die schlechte Nachricht.

Die Vertreibung aus dem Paradies gelang nur Jacques Doillon und Michael Gwisdek, die kein Interesse an irgendwas anderem außer sich selbst respektive dem sinnlosen Verschwenden von Förderungen und Senderfinanzierungen hatten. TROP (PEU) D' AMOUR erzählte, nein plapperte eine uninteressante, unmotivierte und mit dem höchsten Wort- und Hülsenanteil versehene Sexgeschichte die emotionale Tiefe vortäuschte aber geile Dummschwätzigkeit darstellte. DAS MAMBOSPIEL (Michael Gwisdek) ist so schlecht, daß es nicht mal wieder gut ist, obwohl Regisseur und Darsteller den Film genau mit dieser Trash-Argumentation ehrenretten wollten.

Die alljährlich gutbesetzte So what? - Fraktion wurde dieses Jahr von trällernden Musicals über AIDS (JEANNE ET LE GARCON FORMIDABLE) und gähnenden Ich-heirate-nicht-ohne Liebe Kostümfilmen angeführt (IL TESTIMONE DELLO SPOSO von Pupi Avat, immerhin für einen Oskar nominiert). Europäisches Fernsehformat in THE COMMISSIONER (warum George?) und zunächst mit erstaunlichen Bildern und Erzählperspektiven versehene Ödnis aus Japan (SAGA von Nobuhiko Obayashi) sind aus der gleichen Hinterbank immer noch eher zu ertragen als Vicente Arandas LA MIRADA DEL OTRO, der nur fassungsloses Staunen über einen Dauerblick auf eine unmotivierte und unverständliche Hauptperson übrig ließ. THE BOYS von Rowan Woods (Australien), ein zu distanzierter Blick auf die Entstehung von Gewalt ließe sich immerhin noch als Spiegel Reportage unterbringen.

Bemüht oder Besonders?
"Zu Wenig" muß sich Jim Sheridan für seinen harmlosen THE BOXER vorwerfen lassen, der Geschichte eine ehemaligen IRA-Kämpfers der nach seiner Entlassung nichts weiter will als boxen und lieben, was ihm von den rivalisierenden Flügeln seiner alten Kameraden nicht vergönnt wird. Der Hauptgewinner dieser Berlinale, CENTRAL DO BRASIL von Walter Salles vernachlässigt in seiner eindringlichen Studie einer Läuterung und Vatersuche zu oft das Medium,mit dem er seine Geschiche erzählt. Ein Vorwurf, der auch GIRL'S NIGHT, echt britische Working-Class Geschichte zweier Freundinnen zwischen Krankheit und Neubeginn treffen könnte, wenn der Film uns die Hauptpersonen nicht viel näher ans Herz und an den Tränen- und Lachmuskel bringen würde.
XIU XIU von Joan Chen erzählt von tiefer Zuneigung zwischen zwei Menschen, die nicht zueinander passen können. LEFT LUGGAGE (Jeroen Krabbé) und THE SOUND OF ONE HAND CLAPPING von Richard Flanagan beweisen mit ihren Geschichten über Liebe und Tod, Verzweiflung und Vergangenheit einen wesentliche stärkeren emotionalen Ausdruck, und der sollte in der Kür eben bewertet werden.

John Grisham - Mal ganz anders Er ist also doch nicht nur Garant für lähmend uninteressantes Spannungskino ohne Charakter und Höhepunkte, aber man muß erst die ganz Großen an seine Stoffe lassen. Robert Altman verzaubert Grisham in THE GINGERBREAD MAN - dramaturgisch wie visuell auf höchstem Niveau wirft Altman Hauptdarsteller Kenneth Branagh in das Inferno eines herannahenden Tornado und die Verstrickungen eines mysteriösen One-Night Stand. THE RAINMAKER von Francis Ford Coppola ist ein David gegen Goliath Spiel in dem endlich einmal alle Anwälte verlieren, hervorragend gespielt von Matt Damon, Claire Danes und Danny de Vito.

Irgendwie Highlight war nicht nur JACKIE BROWN von Quentin Tarantino, obwohl die von echten Charakteren und Geschichten durchsetzte Krimistory nicht das sein dürfte, was die Fans nach Pulp Fiction erwartet haben. Gerade das jedoch ehrt den Filmemacher. Samuel L. Jackson erhielt für seine Rolle den Silbernen Bären für den besten Darsteller.
Alain Resnais bricht in ON CONNAIT LA CHANSON seine Story auf wunderbare Art und Weise mit Chansons, die unvermittelt in die Dialoge einbrechen und schafft so eine faszinierende Mischung aus Distanz und Nähe zu Erzählung und Figuren.
Ein überwältigender Zeichentrickfilm nach allzuviel Disney-Gleichförmigkeit war MONONOKE HIME, der erfolgreichste Film aller Zeiten in Japan, ein visuelles und atmosphärische Meisterstück trotz zu ausgedünnter Handlung war wieder ein in die Moderne transponierter Klassiker: Charles Dickens' GREAT EXPECTATIONS mit Ethan Hawke, Gwyneth Paltrow, und Robert de Niro.
Die Brüder Coen kehrten nach Fargo zur zynischen Komödie zurück und bescherten mit ihren Hauptdarstellern John Goodman und Jeff Bridges die genialste Lachgeschichte in einem Ensemble von Sachgeschichten. Michael Winterbottoms Seebad-Trauma "I want you" (Die Bilder! Die Bilder!) ernüchterte nur mit dem Ende der Geschichte um Mord und Liebe. GOOD WILL HUNTING läuft jetzt schon im Kino, ein gern gemachter und fadenscheiniger Vorwurf an die Festivalmacher, über diesen Film jetzt nichts außer: Reingehen!

Wie eine irische Ballade gesungen, wie ein Faustschlag ins Gesicht in einer Kneipe auf der grünen Insel: Neil Jordans THE BUTCHER BOY ist betörend zynisch, grandios komponiert und richtig gut. Sinead O' Connor als heilige Jungfrau Maria und die schwulen Annäherungen eines Priesters an einen kleinen Jungen machen mich so richtig neugierig auf die immer noch sehr kirchliche Kritik in den beiden führenden Film-Fachzeitschriften.

Die Gewinner eines Festivals mit überraschend hohem Niveau sind wohl diejenigen, die Auszeichnungen für die beste Regie mit speziellen Würdigungen für Darsteller vereinen oder (immerhin geht es um Filme) für Ihre visuelle Ausdruckskraft ausgezeichnet werden. Der goldene Bär wurde jedoch an Central do Brasil von Walter Salles verliehen. Die stillschweigende Tradition des Festivals, den Hauptpreis an einen kulturoptimistischen Appell zu binden wurde auf dieser Berlinale wieder Rechnung getragen, wie meistens eine Niederlage für den Film als visuelles und narratives Gesamtwerk. Überraschend einig waren sich diesmal die kirchliche und die offizielle Jury bei der Vergabe ihrer höchsten Auszeichnung - Ein Tor wer dabei eine Träne vergißt.

Die heimlichen Gewinner wurden wie so oft in den Nebensektionen gekürt: Neben "The Butcher Boy" von Neil Jordan, und "I want you" von Michael Winterbottom sind auch "Left Lugagge" (Jeroen Krabbé) und Good Will Hunting (Gus van Sant) zum würdigen Kreis der Filme zu rechnen, die zu gut für einen goldenen Bären waren.